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Predigtreihe Jüdisch-christlich: näher als du denkst

Erinnern für die Zukunft
Sachor beziehungsweise 9. November
Ökumenischer Gottesdienst zum Volkstrauertag 14. November 2021 Predigt: Pfarrer Dr. Martin Streck

esung: Jesaja 49, 14 – 17
Liebe Schwestern und Brüder,
Dienstag war der 9. November. Ein Tag, an dem wir so vieler Ereignisse aus der deutschen Geschichte zu gedenken haben, dass man fast nicht weiß, womit anzufangen wäre. In diesem Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdische Leben in Deutschland. Wie viele andere bin ich dankbar, dass jüdische Menschen hier leben. Selbst­verständlich ist es nicht. Im Namen unseres Volkes wurden sechs Millionen Juden ermordet. Am 9. November gedenken wir an dieses Verbrechen, an die Schuld, an die bleibende Verantwortung, die für uns daraus erwächst. Wenn wir dessen nicht gedenken, dann kann es nur daneben gehen, wenn wir anderer Ereignisse, die für unsere Geschichte wichtig sind, gedenken. Auch den heutigen Volkstrauertag und das Gedenken an die Opfer des Krieges könnten wir anders nicht begehen.
Sachor, gedenke! Das jüdische Volk soll der Opfer gedenken, das ist Got­tes Weisung. Sachor! „Denke daran, was dir Amalek tat auf dem Wege, als ihr aus Ägypten zogt.“ (Dtn 25, 17; Luther) Als Gott die Israeliten, sein erwähltes Volk, aus Ägypten befreit hatte, als er sie durch die Wüste in das heilige Land führte, vor mehr als dreitausend Jahren, griffen die Amalekiter sie an, töteten die Schwachen, Alte und Kinder, erniedrigten so das ganze wehrlose Volk.
Sachor, Gedenke. Das jüdische Volk musste immer neuer Niederlagen gedenken. Immer wieder wurden Juden bedrängt, entrechtet, vertrieben, ermordet. Es waren Kinder, Geschwister, Alte, Eltern, Ehefrau und Ehemann, Nachbarn. Men­schen, die sie nicht haben retten kön­nen, deren schrecklichen Tod die Juden haben sehen müssen. Hätten sie dieser Menschen nicht gedacht, hätten sie nicht geklagt und geweint und Wehe geschrieen einander zu und hinauf in die Höhe hin zu Gott, dem Herrn des Erbarmens, ihn zu erinnern an seine Treue und Macht, – gäbe es dann noch Got­tes Volk?
Auch wir als Christen gedenken. Wir nennen uns Gottes Volk. Doch erst durch den Holocaust ist uns bewusst geworden, dass es falsch gewesen ist, auf die Juden herabzublicken, sie für ungläubig zu halten, zu meinen, Gott habe ihnen seine Liebe entzogen. Wir haben Gewalt gepredigt und Gewalt, tödliche Gewalt ausgeübt gegen Gottes Volk, gegen den Menschen, das lebendige Bild Gottes, gegen die Schwestern und Brüder Jesu, unseres Herrn, gegen die Schwe­stern und Brüder von Maria und Joseph, den Eltern Jesu. Wir lasen bei Paulus, dass Gott uns Christen in sein Volk eingefügt hat – wie ein fremder Zweig aufge­pfropft wird in einen guten Ölbaum. Wir haben die Wurzel nicht gesehen, die uns trägt. Wir die haben missachtet, die uns in ihrem Glauben tragen. Wir haben sie getötet. Wir wollten sie töten – ganz und gar.
Wenn wir Christen heute geden­ken, gedenken wir dieser schrecklichen Schuld. Wir gedenken der ermordeten Juden. Der Not der Über­lebenden. Voller Scham erkennen wir, was wir getan haben, was wir zugelassen haben, wie verhärtet wir waren und teilweise noch sind. Wir haben es zugelassen. Wir haben es gewusst. Nur ganz wenige haben widerstanden. Wir bitten um Vergebung. Wir suchen Wahrheit und Liebe. Wir bitten um Frieden. Wie die Juden, Gottes ersterwähltes Volk, hören wir auf Gott, unseren Vater. Eben hörten wir Worte aus dem Propheten Jesaja. Pfarrer Becker hat sie gelesen.
Zion sagt, so fingen die Worte an. Zion, der Tempelberg in Jerusalem. Als der Prophet Jesaja dieses Gotteswort dem jüdischen Volk ausrichtete, lag der Tempelberg in­ Trüm­mern. Der Tempel war zerstört, ins Exil verschleppt alle, die einst mächtig und reich waren. Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen. Am 9. November brannten die Synagogen in Deutschland. Wohnungen und Geschäfte von Juden wurden zerstört. Tausende jüdische Menschen wurden ermordet, mehr noch in Konzentrationslager verschleppt. Die Nachbarn sahen zu, wenn sie nicht mitmachten. Im Innersten, in ihrem Glauben sollten die Juden zerstört werden. Sie spürten: Wir sind allein. Niemand wird uns helfen. Kollegen nicht. Nachbarn nicht. Spielkameraden nicht. Freunde wandten sich ab. Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen. Mit dem prophetischen Wort ging Gott den ersten Vertriebenen nach bis ins Exil nach Babylon. Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, ohne Erbarmen sein gegenüber ihrem leiblichen Sohn? Nein. Eine Mutter kann das nicht. Selbst wenn sie es könnte, Gott kann es noch weniger. Er kann es nicht. Er bittet sein Volk, sein zerstörtes und verfolgtes Volk: Sieh her, ich habe dich eingezeichnet in meine Hände. Die Vertriebenen denken an die Stadt Zion, wie die Häuser, auch Gottes Haus, der Tempel in ihr, geplündert und zerstört wurden. Die Vertriebenen hören, was Gott der Stadt sagt: deine Mauern sind beständig vor mir.
Gott hat es nicht in Gedanken, nicht in einem Archiv, nicht in einem Buch oder auf einer Festplatte. In seine Hände hat er es eingezeichnet. Immer hat er es vor Augen. Selbst wenn er schlafen sollte, was der Wäch­ter Israels nimmer tut, es ist da, in die Hände des Allmächtigen gezeichnet. Ob er seine Hände rührt oder ruht, der Plan der heiligen Stadt ist Gottes Plan. Gott will es nicht vergessen. Gott kann es nicht vergessen. In Gottes großes Gedenken birgt sich der Menschen Gedenken. Gott ist voller Erbarmen. Er erbarmt sich der Gequälten, der Getöteten, der Verzweifelten. Er vergisst sie nicht. Er gedenkt ihrer auf ewig. Er führt sie an den Ort des Friedens und tröstet sie. Gott will den Frieden. Gott will, dass die Menschen einander achten. In jedem Menschen sehen wir das Bild Gottes, vernehmen wir das Sehnen Gottes, seinen Ruf, dass wir Menschen einander ach­ten und lieben. Wir sind Gottes Kinder. Gott gedenkt seiner Kinder, aller seiner Kin­der. Das hilft zum Gedenken. Das hilft Juden und Christen. Und es ver­pflichtet uns, den Frieden zu suchen, ihm nachzujagen. In Wahrhaftigkeit, in Demut und Güte. Gebe Gott uns seine Gnade dazu. Amen.